Yudansha

Jeder von uns hat am Anfang seiner Karate-Karriere mit Sicherheit eine grosse Hoffnung, einen grossen Traum: das Ablegen und Bestehen der Prüfung zum Shodan, dem Schwarzgurt. Damit fängt es an – und doch weiss wohl niemand, auf was er oder sie sich wirklich eingelassen hat. Man fängt mit Karate an und auf einmal spricht man von Karate-Do – dem Weg des Karate. Ein Weg, mit einem unbekümmerten Anfang, ein Weg der manchmal geradlinig, manchmal steil und manchmal auch sehr steinig sein kann. Ein Weg, mit vielen Abzweigungen und Windungen, aber auch Rückschlägen und Enttäuschungen - und trotzdem hat man stets ein vermeintlich klares Ziel vor Augen. Es ist ein Weg, der geprägt ist von vielen neuen Erfahrungen und Herausforderungen, neuen Bekanntschaften und Freundschaften, aber auch von vielen Entbehrungen und Verzicht. Man fängt mit einem "Sport" an und merkt erst später, was Karate-Do wirklich bedeutet: Respekt vor den anderen, den Trainingspartnern, den Trainern, die dann irgendwann zu Sensei werden, den Gegnern an Turnieren und vor allem auch dem Respekt vor sich selbst. Disziplin, Demut und Bescheidenheit sind weitere wichtige Werte, welche zentral sind, um Karate zu erlernen und beherrschen. Und doch beherrscht man Karate niemals vollständig, es ist ein Weg mit einem Anfang aber ohne Ende. Man kann vielleicht die Richtung ändern, das Ziel wird man aber trotzdem nie erreichen. Wer von uns denkt, dass er angekommen ist, ist tatsächlich am Ende, aber nicht an jenem des Karate-Do. Für die Jüngeren unter uns mag dies nun kurios tönen, eines Tages werdet ihr aber verstehen was damit gemeint ist.

Dies alles soll aber nicht verschleiern, was Karate eigentlich ist: Eine Kampfkunst mit dem ultimativen Ziel der Selbstverteidigung, ohne Waffen, aber auch ohne Kompromisse. Das Erlernen dieser Kampfkunst verleiht den Schülern im Alltag Selbstvertrauen, erlegt ihnen aber auch eine grosse Verantwortung auf:

Sei niemals grundlos gewalttätig gegenüber deinen nächsten: Der beste Kampf ist derjenige, welche man nicht führen muss.

Aus dieser Philosophie entstammen auch die 5 Dojo-Kun (Regeln), welche sich in unserem hinteren Dojo an der Wand finden:1.

1. Vervollständige den Charakter und das eigene Ich.

1. Bewahre den Weg der Wahrheit.

1. Kultiviere die Mentalität des harten Arbeitens.

1. Bewahre die traditionellen Grundprinzipien.

1. Unterlasse jegliche Gewalttätigkeit.

Sinnigerweise trägt jede dieser Regeln die Nummer 1, weil jede dieser Regeln genauso wichtig ist wie die anderen. Auf unserem Weg des Karate-Do entwickeln und perfektionieren wir unseren Charakter als Kämpfer und irgendwann können wir hoffentlich erfolgreich die Prüfung zum Shodan, dem 1. Dan, ablegen. Dies dauert normalerweise zwischen 6 bis 8 Jahren. Und dann folgt meistens die grosse Erleuchtung: Das wahre Karate fängt mit dem Erlangen des Shodan erst richtig an. Auf unserem Weg treffen wir auf viele Mitstreiter, viele davon erreichen das ursprünglich gesetzte Ziel nicht. Sei es aus beruflichen, familiären, gesundheitlichen oder anderen Gründen. Egal wie lange man Karate trainiert, es gibt keinen Anspruch darauf, das ursprüngliche Ziel erreichen zu können. Trotzdem ist die grosse Mehrheit der Karate-Ka unserem Club und dem Karate-Do auf die eine oder andere Art für immer verbunden. Dies zeigt auch die Tatsache, dass viele Mitglieder nach ihrer aktiven Zeit unserem Club als Passivmitglieder erhalten bleiben oder sogar nach Jahren wieder den Weg zurück zu unserer Karatefamilie finden. So hat auch der Gründer unseres Weltverbandes SKIF, Hirkokazu Kanazawa Soke, einmal gesagt: Das "F" in SKIF (Shotokan Karate-Do International Federation) steht für Familie. Umso höher ist es auch zu werten, wenn Karate-Ka die Prüfung zum Shodan erfolgreich ablegen. Es markiert den Beginn des wahren Weges des Karate-Do. Es ist hoffentlich der Beginn aber keinesfalls das Ende der Selbsterkenntnis. Es ist der Moment, ab welchem man beginnt, sein eigenes Karate zu entwickeln und seine Erfahrungen und verinnerlichten Werte an die Schüler und Kohai, die Jüngeren, weiterzugeben.

Diese Karate-Ka verdienen aber nicht nur den Respekt und die Anerkennung der Jüngeren, die ihnen nachfolgen und nacheifern, sondern auch den Respekt und Wertschätzung aller Karate-Ka, welche sich der gleichen Sache verschrieben haben. Als Aussenstehender könnte man auf den ersten Blick auch meinen, dass wir ein komischer Haufen sind. Oder wie es Koga Shihan immer wieder im Spass sagt: "Karate-Leute nicht ganz normal."

Es ist aber viel mehr als das: Jeder dieser Danträger, der Yudansha, prägt und beeinflusst unseren Club, unser Dojo und seine Weggefährten. Natürlich gibt es unter uns einige Karate-Ka, welche bei nationalen und internationalen Turnieren ihr Können sehr erfolgreich unter Beweis stellen oder gestellt haben.

Dies soll aber nicht heissen, dass die anderen weniger wert sind oder weniger zu unserem gemeinsamen Geist beitragen. Karate ist für jedermann, ob alt oder jung, ob körperlich fit oder nicht. Jedes unserer Mitglieder trägt auf seine einzigartige Art und Weise seinen Beitrag zu unserem erfolgreichen Dojo bei. Sei es als aktives Mitglied der Nationalmannschaft, als Turnierkämpfer, als Mitverantwortlicher im Vorstand oder TK, als Trainer, als geschätzter Trainingspartner oder einfach als guter Freund – das "F" steht für Familie.

Wenn man einmal einen Schritt zurück macht und das Ganze auf neutrale Art und Weise betrachtet, stellt man fest, dass die Werte des Karate-Do universelle Werte sind. Werte, welche in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich sind. Es sind Werte, die das zivilisierte Miteinander in unserer Gesellschaft erst wirklich ermöglichen. Dies offenbart sich zum Beispiel daran, wenn sich Eltern unserer Kinder beim Betreten des Dojos verbeugen und mit "Oss" das Dojo, die Meister und alle anderen sich auf dem Weg, dem Do, befindlichen Karate-Ka begrüssen. Eine schöne und respektvolle Geste, welche von diesen Leuten nie eingefordert wurde, welche sich aber irgendwie als logisch, angebracht, passend und natürlich erweist. Basierend auf diesem gegenseitigen Respekt entsteht eine natürliche Hierarchie, welche das reibungslose Miteinander auf selbstverständliche Weise ermöglicht. Ein höherer Rang bedeutet nicht automatisch mehr Rechte oder Einfluss, sondern geht mit Pflichten einher.

Er erfordert von den höheren Mitgliedern, dass sie ihre Funktion als Vorbild, als Lehrer und als Senpai (Älterer) mit Demut und Bescheidenheit vorleben und den jüngeren Karate-Ka auf ihrem Weg beistehen und sie unterstützen, sie aber auch fördern und fordern, als Lehrer und als Wegbegleiter und Wegbereiter. Auch die Danträger, welche schon lange mit uns schwitzen, manchmal auch mit Blut und Tränen, sind nicht am Ende angekommen. Es ist ein unglaublicher schöner und erfüllender Weg. Ein Weg, der in sich selbst seinen Zweck erfüllt. Es ist ein Weg, auf welchem wir stets von anderen lernen, uns selbst weiterentwickeln und versuchen, morgen eine bessere Version von unserem gestrigen Ich zu sein. Jeder von uns kann von den anderen noch etwas lernen, sei es als Wettkämpfer, als Trainer oder als Trainingspartner. Ich kann zum Beispiel den Jungen unter uns sagen, dass euer Enthusiasmus und eure Begeisterung auch für uns Ältere ansteckend und motivierend sind.

Darum möchte ich heute in unserem Dojo etwas einführen, was den Kohai, den Jüngeren, als Motivation und zusätzliches Ziel dienen soll, aber vor allem die Leistung unserer Danträger für unser Dojo anerkennen und unterstreichen soll – und ich wiederhole mich bewusst - sei es als aktives Mitglied der Nationalmannschaft, als Turnierkämpfer, als Mitverantwortlicher im Vorstand oder TK, als Trainer, als geschätzter Trainingspartner oder einfach als guter Freund – das "F" steht für Familie!

Dies ist der KCVT Yudansha-Taler: Eine Münze, welche die Leistung, Aufopferung und Hingabe, die Hartnäckigkeit und Zielstrebigkeit, aber auch die Begeisterung und das Engagement unserer Danträger für unser Dojo, alle unsere Mitglieder und unsere gemeinsame Sache anerkennen und ehren soll. Es ist eine speziell geprägte Münze, welche ich nicht automatisch jedem erfolgreichen Absolventen der Shodan-Prüfung überreichen werde. Es ist eine Münze, die denjenigen verliehen wird, welche sich auf ihre ganz eigene Art und Weise als Vorbild und würdige Yudansha für andere in unserem Club verdient gemacht haben. Diese Münze soll die Yudansha aber auch stets an ihre vorgängig genannten Pflichten erinnern: Alleine gehen wir vielleicht schneller, gemeinsam aber gehen wir weiter.

Es gibt selbstverständlich auch hier einige Regeln: Der Yudansha-Taler ist nummeriert, d.h. jeder Danträger erhält genau eine Münze. Diese Münze ist persönlich, sie darf niemals verkauft, ausgeliehen, verschenkt, vererbt oder sonst wie weitergereicht werden. Sie verkörpert die erwähnten Werte und verpflichtet den oder die Inhaberin, das traditionelle Karate-Do auch weiterhin getreu diesen Werten vorzuleben. Genauso wie es möglich ist im Extremfall ein Mitglied aus dem Dojo auszuschliessen behalte ich mir auch das Recht vor, diesen Yudansha-Taler wieder einzuziehen, falls sich der Besitzer als unwürdig erweisen sollte. Jeder und jede, welche diese Münze erhält, hat sich diese auf seine eigene Art und Weise verdient. Jeder Yudansha wird diesen Yudansha-Taler zusammen mit einem Brief von mir und einigen persönlichen Worten erhalten. Dies in der Erwartung, dass ihr den wahren Weg des Karate-Do auch weiterhin geradlinig und treu weitergehen werdet.

Ich freue mich, nicht nur mit den Yudansha, sondern mit allen Mitgliedern und Freunden des Karate Club Visp-Tärbinu unseren Weg in die Zukunft weiterzugehen. Wir kennen nur ein Gas - Vollgas!

Lang lebe der Karate Club Visp-Tärbinu!

OSS!

Alain Juon, Dojoleiter Karate Club Visp-Tärbinu